4. Unterrichtsbesuch:
Konfrontationen inszenieren

Hier werde ich erörtern, warum die einfache Lehr-Lern-Form ‚Unterrichtsbesuch‘ mit dramatischen Wörtern wie ‚Konfrontation‘ und ‚Inszenierung‘ bedacht wird.

4.1. Gegenüberstehen

Das Anliegen trifft auf die Wirklichkeit. Man hat sich in der Tat als Unterrichtender (m/w/d) erlebt und die daraus gewonnenen Erfahrungen genutzt, um zu extrapolieren, was man besser machen möchte. Man hat sich für einen Ansatzpunkt zu möglicher positiver Veränderung entschieden und mit Hilfe von Begleiterinnen praktikabel formuliert, wie man wiederum zur Tat schreiten will. Das Anliegen ist die eine Sache, das tatsächliche Unterrichten die andere. Die beiden Ebenen stehen sich gegenüber, sie begegnen sich. Es gibt dabei, wie im Folgenden erläutert, noch andere Begegnungen, zum Beispiel das Aufeinandertreffen der Welten, aus denen die beteiligten Kolleginnen und Kollegen kommen. Solches Begegnen bezeichnen wir im accompagnato-Modell als Konfrontation. Mit diesem kraftvollen Wort werden die Dynamik und die Dramatik unterstrichen, mit der sich das Geschehen auf dieser kleinen Bühne des Welttheaters abspielt. Der Begriff hat hier keine negative Konnotation, sondern verweist im Gegenteil auf die Konstruktivität und Fruchtbarkeit des Miteinander, wenn es nicht vor allem nett und ‚hilfreich gemeint‘ zugehen, sondern ehrlich und ernsthaft zur Sache gehen soll.
Auf manche Spannungsfelder, die das Lehren-Lernen und die Lehrtätigkeit überhaupt ausmachen, wurde im Kapitel über die Anliegen-Klärung hingewiesen, insbesondere bezogen auf das ‚Macht-Kriterium‘. Die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten stehen dem in der bestimmten Schule und in der bestimmten Klasse Machbaren gegenüber, die persönlichen Ideale und beruflichen Wertvorstellungen treffen auf die durch das System Schule gegebenen Rahmenbedingungen. Im speziellen Fall des Unterrichtsbesuchs steht das Begegnen verschiedener Welten im Zentrum. Die Kolleginnen und Kollegen werden genau darum zum eigenen Unterricht eingeladen, weil sie Erfahrungen, Wahrnehmungsfähigkeiten und Sichtweisen mitbringen, die man selber nicht zur Verfügung hat. Diese Unterschiede miteinander zu konfrontieren, sie in ein konstruktives Gespräch einzubinden und gerade darin die Chancen für die eigene Weiterentwicklung zu erkennen, darin besteht der Sinn des Unterrichtsbesuchs.

4.2. Die Hypothek konventioneller Unterrichtsbesuche

Das ist keine einfache Sache. Wer heute einen Unterrichtsbesuch organisiert, bringt unweigerlich unselige Konventionen mit ins Spiel. Die meisten oder gar alle Lehrerinnen und Lehrer kennen die unangenehmen und kontraproduktiven Aspekte von so genannten Hospitationen. Der Besuchte (m/w/d) hat zumeist keinen guten Stand, er hat ein zwiespältiges Gefühl in der Rolle als Gastgeber, er hat nur wenig Spielraum, die Spielregeln zu bestimmen. Das Gefühl, von Experten kritisch beäugt und gar bewertet zu werden, beherrscht das Feld. Man (w/m/d) hat ein Unterrichtskonzept vorbereitet, mit dem man – hoffentlich – gut aussteigt. Es ist einem eher daran gelegen, Stärken zu zeigen. Die Desiderate und Ansatzpunkte für mögliche positive Veränderungen, also auch Anliegen, hebt man sich lieber auf für die Situationen, in denen man allein ist und keine Gäste hat. Auf die so genannte Nachbesprechung freut man sich eher selten. Sie geht meistens in die Totale: Die Gäste können alles äußern, was ihnen aufgefallen ist. Als besonders reichhaltige Formen gelten (Positiv- und) Negativ-Runden: Alle Gäste können und sollen, unlimitiert, einbringen, was ihnen an positiven und an ‚verbesserungswürdigen‘ Aspekten des Unterrichts einfällt. Man muss damit rechnen, dass, nach anfänglich netten, freundlichen Kommentaren, ‚kritische‘ oder ‚schwierige‘ Punkte herausgegriffen werden. Hier ist auch der Platz für ‚hilfreich gemeinte‘ Alternativen: ‚Das hätte ich lieber so oder so gemacht.‘ Alle diese mit Unterrichtsbesuchen konnotierten Aspekte sind nicht hilfreich fürs Lehren-Lernen, sie alle stehen der persönlichen Weiterentwicklung und der Professionalisierung im Lehrberuf entgegen. Es ist kaum vorstellbar, dass Unterrichtsbesuche dieser Art zukunftsträchtig sind.
Ein weiteres Merkmal haftet der Konvention von Unterrichtsbesuchen oder Hospitationen an: die Beurteilung. Es ist legitim, in Prüfungssituationen oder bei Bewerbungen die Fähigkeiten des Unterrichtens zu kontrollieren und die Kandidaten zu beurteilen; dies ist dann klar deklariert: Der Sinn der Veranstaltung ist nicht Lernen, sondern Präsentation zum Zweck des Geprüft- und Beurteilt-Werdens. Der Unterrichtsbesuch wird aber fragwürdig, wenn er als Lehrveranstaltung, als Unterrichtserprobung oder Übung deklariert und gleichzeitig bewertet und mit einer Zensur versehen wird. Weil diese unselige Koppelung in der Vergangenheit häufig praktiziert wurde, verbindet sich mit Hospitationen leicht das Gefühl von Kontrolle.

4.3. Begegnungen gestalten

Die vielen negativen Konnotationen von konventionellen Unterrichtsbesuchen wurden hier benannt, um herauszuarbeiten, warum sie im Kontext des accompagnato-Lernzyklus keine einfache Sache sind. Denn die damit verbundenen Bilder und Vorstellungen sind auch dort präsent. Aus diesem Grunde wurden im accompagnato-Modell Regeln entwickelt, die eine andere, nämlich förderliche Tradition von Unterrichtsbesuchen begründen können. Wenn wir dabei von Inszenierung sprechen, betonen wir die Idee der sorgfältigen Gestaltung der Situation und des Agierens auf der Bühne des Spiels zwischen Gastgeber (m/w/d) und Gästen. Je achtsamer das Besondere dieser Situation gestaltet wird, desto größer sind die Chancen, dass die Aspekte herkömmlicher Hospitationen in ihrer negativen Wirkung verblassen. Die Vereinbarungen dienen dem Schutz der Souveränität des Gastgebers und sie sind eine Technik des Absicherns von Konstruktivität im Sprechen und Handeln.
Die Gestaltungsaspekte und Regeln werden im Folgenden skizziert. Sie sind strikt formuliert, um das Entscheidende deutlich zu machen. Sie können als Leitlinie benutzt und für die jeweils gegebenen Rahmenbedingungen adaptiert werden.
Man bildet in eigener Regie oder im Rahmen eines entsprechenden Seminars eine Zeit lang eine Gruppe von drei bis vier Personen, die Vertrauen zueinander empfinden. Offenheit und Wertschätzung füreinander sind notwendige Bedingung; ohne sie macht das Ganze keinen Sinn. Im Falle eines Kurses sind die Leiterin oder der Leiter in diese Arbeitsphase nicht direkt einbezogen, sie werden allenfalls um punktuelle Beratung gebeten. Günstig, aber nicht notwendig, ist es, wenn die Beteiligten aus unterschiedlichen Phasen des Lehren-Lernens kommen, wenn sich zum Beispiel Berufsanfänger mit Studierenden und mit jahrelang erfahrenen Kolleginnen zusammentun. Im wechselnden Turnus übernimmt mal diese Kollegin, mal jener Kollege die Rolle der Protagonistin bzw. des Protagonisten, die anderen sind in dieser Phase die Antagonisten oder Begleiter. In dieser Gruppe wird die Art des gemeinsamen Handelns im Lernzyklus vereinbart. Die Protagonistin hat und behält vom Beginn bis zum Abschluss dieser Phase die Federführung, sie wird darin von den Begleitern respektiert.
Gemeinsam mit den Begleiterinnen geht der Protagonist (m/w/d) durch den Arbeitsvorgang von Ansatzpunkt-Finden, Anliegen-Formulieren und Beobachtungspunkte-Klären. Zeitpunkt und Rahmenbedingungen des Unterrichtsbesuches vereinbart. Im Unterricht fokussieren die Begleiterinnen ihre Wahrnehmung und Beobachtung auf alles, was mit dem Anliegen zu tun hat. Anderes wird ausgeblendet. Das wichtigste Handwerkszeug sind die Beobachtungsaufgaben; Beobachtungsergebnisse werden möglichst schriftlich notiert.