3.4. Das Macht-Kriterium

3.4.1. Das Kriterium „Es liegt in meiner Macht.“ überprüfen

Die Arbeit mit dem Anliegen setzt bei den eigenen Handlungsmöglichkeiten beim Unterrichten an. Es wird das in den Blick genommen, was man realistischerweise „können kann“, was einem also unter den gegebenen Umständen möglich ist. Die Lehrperson, die Protagonistin im accompagnato-Lernzyklus, steht mit ihrer Zuständigkeit und Verantwortung im Mittelpunkt.

Wünsche oder Forderungen an andere werden beiseite gestellt. Die Hoffnung, dass das Direktorium etwas zur Verbesserung der Atmosphäre an der Schule tut oder für eine bessere Kommunikation im Kollegium, hat hier genauso wenig Platz wie zum Beispiel die Erwartung an die Schülerinnen und Schüler, ruhiger und konzentrierter bei der Sache zu sein.

Das Kriterium „Es liegt in meiner Macht.“ stellt die Frage nach der Zuständigkeit der Lehrperson: Was die Direktorin zu verantworten hat, fällt nicht in ihren Kompetenzbereich; wenn ein Schüler laut ist, hat sie nicht die Kompetenz, ihn ruhig zu stellen. Also richtet sich die Frage an die Protagonistin im Lernzyklus, was sie tun kann, um im Sinne ihres Anliegens tatsächlich wirksam zu werden – zum Beispiel dafür, dass in der Folge die Lernenden ruhiger und konzentrierter lernen können.

Das so verstandene Macht-Kriterium ist ein Tool auf dem Weg von einem Wunsch oder einem gefundenen Ansatzpunkt zur Klärung des Anliegens und zum Benennen realistischer Handlungsoptionen.

3.4.2. Ein Praxisbeispiel

Ein „Beispiel aus der Praxis“ auf der „Formulierung erarbeiten“-Seite lautet:

Ich möchte erreichen, dass vor allem dann, wenn ich den Schülerinnen und Schülern der Klasse 5 d Arbeitsaufträge gebe, die Atmosphäre ruhig und konzentriert ist.

Unter dem Aspekt des „Macht-Kriteriums“ klingt dieses Anliegen schwach. Tatsächliche Handlungsoptionen für das Schaffen einer ruhigen und konzentrierten Atmosphäre sind nicht benannt. Das Anliegen beschränkt sich darauf, eine spezifische Unterrichtssituation zu fokussieren, und lässt die Frage offen, auf welche konkrete Weise eine erwünschte Veränderung erreicht werden könnte. Möglicherweise ergeben sich bei dieser Arbeit des Fokussierens Handlungsoptionen, die zunächst noch nicht erkannt werden können.

Die Zuständigkeit ist klar benannt: „Ich möchte erreichen …“ (im Unterschied etwa zu „Die Schülerinnen sollen …“). Das „Macht-Kriterium“ hat nun auffordernde Wirkung; es führt zur konkretisierenden Frage: Was liegt in meiner Macht, also was kann ich tun, um zu „erreichen, dass die Atmosphäre ruhig und konzentriert ist“.

Möglicherweise liegt der Ansatzpunkt zur gewünschten Veränderung
– in der Einfachheit und Klarheit der Formulierung des Arbeitsauftrags,
– vielleicht im möglichen Interesse an der Sache, am „Stoff“,
– oder an der arbeitstechnischen Attraktivität dessen, was zu tun ist,
– oder in der Ausstrahlung von Ruhe und Konzentriertheit auf Seiten der Lehrerin bzw. des Lehrers
– …

Hier wird erkennbar, wie das Kriterium „Es liegt in meiner Macht.“ die Klärung des Anliegens einschließlich des Benennens konkreter Handlungsoptionen vorwärtsbringt.

3.4.3. Persönlichkeit versus Rahmenbedingungen

Die Berücksichtigung des „Macht-Kriteriums“ kann den Blick noch auf eine weitere Ebene richten, nämlich auf die bestimmende und zumeist einschränkende Macht der Rahmenbedingungen des Unterrichtens. Diese Rahmenbedingungen betreffen zum Beispiel
– das Umgehen mit der Zeit, also die Einteilung des Schulalltags in „Stunden“ und Pausen von vorgegebener Dauer,
– die Gestaltung der Räume,
– den Umgang mit Lehr-/Lern-Materialien,
– die Größe und Zusammensetzung der Klassen bzw. Lerngruppen,
– die vorherrschenden Wertevorstellungen (Tradition, Religiosität, Gender, Leistung, Individualität versus soziales Bewusstsein, Einteilung und Wertigkeit der Schulfächer, Verantwortungsgefühl, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit …)
– u.v.a.m.
Sie alle beeinflussen das, was Lehrende sinnvollerweise als Anliegen formulieren und wie sie sich realistischerweise in ihrer Professionalität weiterentwickeln können.

Lehrer und Lehrerinnen stehen als Persönlichkeiten in mehr oder weniger starker Spannung zu den Rahmenbedingungen von Schule. Sie haben ihre individuellen Charaktereigenschaften und Wertvorstellungen und sind gleichzeitig verantwortliche Repräsentanten des Systems. Sie möchten möglicherweise gern so manches ganz anders machen, als es die Schule, wie sie nun einmal ist, erfordert. Und doch sind sie konfrontiert mit der bestimmenden Macht der Rahmenbedingungen, die sie aber zu respektieren haben. Diese Spannung prägt ihren Alltag mehr oder weniger stark – und sie wirkt im Prinzip in jeden Prozess des Anliegen-Klärens hinein.

Für das Lehren-Lernen ist es von großem Vorteil, wenn es gelingt, diese Spannung in eine gute Schwingung zu verwandeln und damit in eine Stimmigkeit für das eigene Handeln.

Übrigens kann man konkret, „vor Ort“, beobachten, ob es eine gute „Passung“ gibt zwischen der Lehrenden-Persönlichkeit und der spezifischen Schule, in der sie unterrichtet. Mit „Passung“ ist hier gemeint, dass die erörterte Spannung eher gering und fürs Lehren-Lernen nicht gravierend ist, „Nicht-Passung“ würde eine zu hohe Spannung bedeuten, zu hoher Stressbelastung führen und nicht selten das Gefühl verursachen, generell als Lehrende „nicht geeignet“ zu sein. Nach einem Wechsel der Schule wird nicht selten „die Welt“ grundlegend anders erlebt.

3.4.4. Das Phänomen der Macht im Miteinander

Das Macht-Kriterium, wie es im accompagnato-Modell zur Überprüfbarkeit der Praktikabilität eines Anliegens vorgeschlagen wird, korrespondiert auf interessante Weise mit den tiefgreifenden Analysen des Phänomens Macht von Hannah Arendt in ihrer Schrift „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ aus dem Jahre 1967. Darauf sei hier nur am Rande verwiesen; denn tatsächlich ist es nicht stimmig, die auf die unmittelbar praktisch ausgerichtete Frage, was realistischerweise mit einem Anliegen möglich ist, neben das übergreifende Theoriegebäude von Hannah Arendt zu stellen. Und dennoch, die Verknüpfungspunkte sind der Möglichkeitsaspekt (Was liegt in meiner Macht, was ist im gegebenen Kontext möglich?) und das Tun im Miteinander.  

Im Kapitel „Der Erscheinungsraum und das Phänomen der Macht“ weist Arendt darauf hin, dass sich unser deutsches Wort Macht von „mögen“ und „möglich“ herleitet (nicht von „machen“) und dass es – im Unterschied zu Kraft und Stärke und im völligen Gegensatz zu Gewalt – die Potenzialität in der Gemeinsamkeit benennt.

Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält.“

Und kurz danach:

„Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.“

(Beide Zitate aus der Ausgabe 2019 von „Vita activa“)

 

3.4.5. Über-Macht und Ohnmacht im Erziehungsparadigma

Die Macht-Frage führt noch zu einem anderen tiefgreifenden Thema, nämlich zum Infrage-Stellen des Erziehungsparadigmas. Das Schulsystem gilt im allgemeinen Verständnis als ein oder, nach dem Elternhaus, gar als das zentrale Erziehungssystem der Gesellschaft. Die Verpflichtung zum Erziehen sitzt allen Lehrenden übermächtig im Nacken. Aber können sie mit dieser Aufgabe der Realität standhalten, haben sie die Möglichkeit dazu? Liegt es tatsächlich in der Macht von Lehrerinnen und Lehrern, junge Menschen zu erziehen? Kann es in ihrer Zuständigkeit und Verantwortung, also in ihrer Kompetenz liegen, sie etwa zu mündigen Menschen oder, im Fall des Musikunterrichts, zur Freude an der Musik zu erziehen? Kann man als in der Schule Lehrender guten Gewissens den Erziehungsauftrag des Systems überhaupt übernehmen?

Niklas Luhmann sagt in seinem Buch über das Erziehungssystem der Gesellschaft, Erziehung führe „zu einer Trivialisierung der Zöglinge“.

„In den Ohren der Pädagogen mag es schrecklich klingen, wenn man ihr Geschäft als Trivialisierung der Menschen beschreibt. Wenn man den Begriff definitionsgenau (und nicht abwertend) verwendet, liegt er jedoch genau auf der Linie dessen, was man als Erziehung beobachten kann.“
(Niklas Luhmann, 2002: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 77-78)

Anschaulicher und rigoroser noch als Luhmann hat Sigfried Bernfeld vor hundert Jahren gesagt, dass, definitiv, „der Lehrer nicht erziehen kann“. Man stünde dieser Aufgabe letztlich ohnmächtig gegenüber, so sehr man sich auch immer aufs Neue bemühe; ein solches Bestreben sei reine Sisyphos-Arbeit. Man solle sich lieber nicht einbilden, es läge mehr in der Macht des Lehrers (m/w/d) als schlicht und einfach zu unterrichten.

„Angesichts der faktischen Unmöglichkeit, mehr zu tun als zu unterrichten […] hat er die Wege frei: sich zu täuschen […] und zu glauben, er verwandle ihre Charaktere im Sinne seines erhabenen Erziehungszieles; oder sich zu sorgen, sich zu verachten, herabzusetzen, zu verärgern und zu verbittern im Laufe der Jahre; oder auf die höheren Aufgaben zu verzichten und sich zu bescheiden, ein Unterrichtender zu sein.“
(Siegfried Bernfeld, 1925/1994: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 22)