2. Lernzyklus

2.1. Anliegenklärung – Unterrichtsbesuch – Auswertung

Das Lehren-Lernen vollzieht sich generell wie alles Lernen auf höchst komplexe Weise, scheinbar chaotisch, mit vielen Schüben, Schleifen, scheinbaren Leerläufen oder gar Rückentwicklungen (Regressionen), in Schritten, Sprüngen oder Spiralen. Planbar ist das Ganze nur bedingt. Selbst eigenes Wissen und Bewusstheit für die eigenen Lern-Entwicklungen gibt es nur in beschränktem Maße, mal hier, mal dort, mal mehr, mal weniger.
In diese Komplexität hinein arbeiten ‚Lehren-Lerner‘, wie in einer Art Intervention, mit Hilfe des bewusst und gezielt gestalteten Kreislaufs – oder der Spirale oder dem Schwungrad – von Anliegenklärung, Unterrichtsbesuch („Konfrontationen inszenieren“) und Auswertung („Wert schätzen“).
Der accompagnato-Lernzyklus ist ein Tool, ein Instrument, das man gezielt zugunsten der Professionalisierung des eigenen Lehrberufes einsetzen kann. Es wird sich zeigen, dass es nicht einfach ist, dieses Instrument zu spielen. Um es effektiv zu nutzen, wird man sich mit ihm vertraut zu machen haben. 

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Der accompagnato-Lernkreislauf, Version 1
(aus: accompagnato-Buch, S. 47)

2.2. Lernzyklus und Schulalltag

In der alltäglichen Praxis ist es nicht leicht, die drei Elemente in direkter Verbindung zu organisieren, also die Anliegenklärung im Team, den Unterrichtsbesuch und die anschließende gemeinsame Auswertungsarbeit. Die Durchführung dieser Form soll wohl real im Mittelpunkt stehen. Aber gleichzeitig wird die Arbeit mit dem Anliegen auch in den anderen Unterrichtsstunden, in denen keine Gäste anwesend sind, von hohem Wert sein.

Wenn eine Lehrerin zum Beispiel vier Wochen lang mit einem bestimmten Anliegen arbeiten will, wird sie das auf beiden Ebenen tun: Sie wird sich in allen Unterrichtsstunden in der benannten Klasse darauf konzentrieren, sie wird versuchen, sich selbst zu beobachten und dabei ein Stück weit die Beobachtungsaufgaben, die für die Unterrichtsbesucher formuliert wurden, zu Hilfe nehmen und sie wird anschließend ihre Erfahrung auswerten. Beim Unterrichtsbesuch dann, also bei den „inszenierten Konfrontationen“, wird die Anliegen-Arbeit eine starke Vertiefung erfahren: Die Augen und Ohren der Gäste werden die Unterrichtssituation und speziell das Lehrerverhalten anders wahrnehmen als die Gastgeberin, und die Auswertung bekommt eine ganz andere Größenordnung. Beide Formen, die Arbeit allein und das Nutzen der Unterrichtsbesuche einschließlich der Auswertung im Team, gehören in der Anliegen-Arbeit zusammen.

Man kann die Arbeit mit dem Lernzyklus punktuell und auf eigene Weise arrangieren oder aber im Kontext eines längerfristig angelegten accompagnato-Seminars. Dieses letztere bringt große Vorteile für die Vertiefung in die Grundlagen dieser Arbeitsweise und für das Training mit, günstigenfalls, wechselnden Kleingruppen, in denen immer wieder jemand anderer die Rolle der Protagonistin einnimmt.

2.3. Wertefelder

Die Kreise und Ovale des obigen Bildes vom Lernzyklus wirken harmlos und beruhigend. Tatsächlich aber ist hier viel Dramatik im Spiel, eine Handlung mit vielen Spannungen, Unsicherheiten, Zweifeln und Freuden. Diese Dramatik steckt nicht nur in den Elementen des Kreislaufs selber, sondern ist auch bereits durch die Felder gegeben, die den äußeren Rahmen bilden; denn sie alle – die vier wichtigsten werden hier angegeben – stehen in großer Spannung zueinander. Und immer geht es um Werte.

2.3.1. Die Person, also das personale Wertefeld:
Interessen, Motivation, Erfahrungen, Ressourcen, persönliche Philosophie

Ein „Lehren-Lerner“ steigt in den vom Lernzyklus geprägten Prozess von Anliegenklärung, Unterrichtspraxis und Auswertung ein. Diese Person ist nun die Protagonistin, die Zentralfigur im Geschehen. Sie bringt ihre persönlichen und vielleicht sogar ihre privaten Wünsche und Interessen in den beruflichen Kontext ein. Sie greift auf das bisher Gelernte und auf alle möglichen Erfahrungen zurück. Sie wird geleitet von dem, was ihr wichtig ist und was sie wie in Bezug auf die eigene Person bewertet.

Auch andere Personen sind im Spiel, nämlich die „Begleiter“: Kolleginnen und Kollegen, die bei der Anliegenklärung helfen, den Unterricht beobachten und sich an der Auswertung beteiligen.

Und auch die Schülerinnen und Schüler spielen im personalen Wertefeld ihre Rollen, wenn auch indirekt. Vorm Unterricht: Von ihnen, ihrem (erfahrungsgemäß vermuteten) Verhalten wird die Klärung des Anliegens der Protagonistin sowie die konkrete Unterrichtsplanung geprägt. Im Unterricht: Von ihnen hängt es wesentlich ab, wie der Unterricht läuft. Im Anschluss an den Unterricht: Die Auswertung richtet sich in hohem Maße nach den Bildern, die sich die am Geschehen Beteiligten von den Lernenden und ihrem Verhalten gemacht haben.

2.3.2. Die pädagogische Philosophie des accompagnato-Modells:
Das Wertefeld seiner Hintergründe, Theoriegebäude und Paradigmen

Wenn man sich auf diesen Lernzyklus einlassen will, macht es Sinn zu verstehen, was mit „Sich-Bilden“, „Lehren und Lernen“, „Anliegen“, „Beobachtung“, „Aus-Wertung“ usw. gemeint ist.
(Die entsprechenden theoretischen Hintergründe werden im accompagnato-Buch ausführlicher als hier, auf dieser Website, dargestellt.)

Damit verbunden ist die Frage, ob und wieweit die persönlichen Auffassungen und Werte-Orientierungen mit den hier angebotenen korrelieren.

Das Spiel dieses Instruments zur Professionalisierung im eigenen Lehrberuf wird dann gut zum Klingen kommen, wenn die Spannungen zwischen dem eigenen Wertefeld und dem des accompagnato-Modells harmonieren.

2.3.3. Die Sache als Unterrichtsgegenstand:
Die uns umgebende und verfügbare „Welt“, in der Schule: die Inhalte der Unterrichtsfächer

Das Lernen wie das Sich-Bilden vollzieht sich im Umgang mit „den Sachen“: all den Dingen und Zusammenhängen um uns herum, die wir für uns nutzen und hand-haben wollen, die wir verstehen möchten, zu denen wir in Beziehung oder in Resonanz treten, die wir uns aneignen und dadurch selber „eigen“ werden, also so, wie wir (geworden) sind, wie wir uns bilden im Sinne von formen. Es sind nie die „Sachen an sich“, die uns gegenüber und zur Verfügung stehen, es sind immer die „Sachen für uns“: Wir nehmen sie wahr in ihrem Wert für uns. Die „Welt“ ist unsere Werte-Welt.

Bei Ruth Kohn ist „die Sache“ das „Es“ neben dem „Ich“ und dem „Wir“, Berthold Brecht spricht von der Beziehung stiftenden „Dritten Sache“, Hannah Arendt von den Menschen als „bedingten Wesen“: „.. weil menschliche Existenz bedingt ist, bedarf sie der Dinge …“. Hartmut Rosa unterscheidet bei der „Ich-Welt-Beziehung“ zwischen „Welterfahrung“ und „Weltaneignung“. Die Schule versucht – recht und schlecht – das Lernen und Sich-Bilden an den Sachen in Unterrichtsfächern zu gliedern. Hartmut von Hentig stellt diesem schulischen Grundkonzept ein anderes gegenüber: zehn unterschiedliche „Lebenstätigkeiten“, die den „Anlass zum Sich-Bilden“ darstellen könnten.

Da im accompagnato-Lernzyklus der Unterrichtsbesuch im Mittelpunkt steht, geht es immer auch um ein bestimmtes schulisches Unterrichtsfach und den damit verbundenen „Sachen“, den „Gegen-Ständen“, dem „Stoff“ und den mit ihnen verbundenen, unterschiedlichen Werte-Welten: die Welt der Musik, der Geografie, der Sprachen usw. Sie wirken bereits in die erste Station des Kreislaufs, die Anliegenklärung, hinein und beeinflussen die Auswertung und damit den möglichen neuen Start in den Zyklus.

2.3.4. Institution Schule als konkreter Handlungskontext:
Raum, Atmosphäre, Schulkultur, gesellschaftlicher Auftrag

Die Schule bildet den Rahmen, in dem sich die Arbeit mit dem accompagnato-Lernzyklus abspielt. Sie ist keinesfalls ein lediglich äußerer Rahmen, der den Raum für die Unterrichtsbesuche bereitstellt. Vielmehr wirkt sie mit ihrer spezifischen, wie auch immer wahrgenommenen Realität in alle Facetten des Prozesses hinein: in die Anliegenklärung, in das Agieren vor Ort und in die Auswertung mit der weiterführenden Frage nach den Folgerungen.

Ganz praktisch geht es um Raum und Zeit für den Unterrichtsbesuch: Lassen sich die Unterrichtsstunde mit einer bestimmten Schulklasse und der Besuch der Kolleginnen und Kollegen einschließlich der anschließenden Auswertungsarbeit so organisieren, dass die Arbeit am Anliegen der Protagonistin gut im Fokus stehen kann? Das Gefühl für die Räume und den zeitlichen Rahmen prägt dieses Fokussieren in stärkerem Maße, als es, nach unserer Erfahrung, zumeist wahrgenommen wird.

Zu dieser Frage nach der förderlichen Atmosphäre gehört auch die grundsätzliche Haltung der Wertschätzung oder Skepsis gegenüber einer solchen Form des Lehren-Lernens durch die Kolleginnen und Kollegen der Schule und durch die Direktion. Es ist immer wieder erstaunlich, wie extrem unterschiedlich sich die jeweils ganz spezifischen Schulkulturen „anfühlen“ und wie sehr sie das Grundgefühl des „Lehrer-Seins“ prägen.

In diesem hoch-wirksamen Wertefeld Schule prallen viele Wertefelder aufeinander: die persönlichen der Kolleginnen und Kollegen sowie der Direktion, die Schulkulturen und, über und in allem, der gesellschaftliche Auftrag der Schule. Wie funktioniert die Institution Schule überhaupt als Lern- oder gar als Bildungssystem? Wie wird in ihr das Verhältnis von Lernen und Leistungsorientierung gestaltet? Wieweit ist sie im Wesentlichen ein Selektionssystem, das jungen Menschen ihren Platz im sozialen System zuordnet? Wieweit fördert sie bei den Lehrenden und den Lernenden eher die Haltung des Einzelkämpfertums oder des Miteinander? Wieweit steht sie für die Reproduktion des gesellschaftlichen Status Quo oder für Veränderung im Sinne von „Treibhäusern der Zukunft“?

So weitreichend diese Gedanken auch klingen mögen, in das Arbeiten mit dem accompagnato-Lernzyklus spielen sie alle hinein, implizit oder explizit, bewusst oder unbewusst.

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Der accompagnato-Lernkreislauf, Version 2
(aus: accompagnato-Buch, S. 86)

2.4. Neuen Schwung holen

In den Lernzyklus kann man immer wieder einsteigen, mehrere nacheinander durchlaufen, Pausen machen, sich wieder neuen Schwung holen – zum Beispiel, wenn aus der Arbeit an dem Anliegen bzw. der Auswertung ein neuer Wegweiser zum Vorschein kommt, wenn eine im Schulalltag erlebte Situation dafür einen Impuls zu geben scheint, oder in beruflichen Neuanfängen.

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Der accompagnato-Lernkreislauf, Version 3
(aus: accompagnato-Buch, S. 104)

Dieses Instrument der Professionalisierung, des Sich-Bildens im Lehrberuf, ist nicht leicht zu spielen. Es braucht, wie schon gesagt, einiges an Training – und viel Klarheit über Sinn und Bedeutung der einzelnen Elemente Anliegen – Unterrichtsbesuch – Auswertung.